Schließlich kam der Tag, der mir ein Stück die Welt veränderte. Der Tag mit der Nachricht aus Tschernobyl. Ich weiß noch, mit welchem Gefühl ich am Morgen nach dem Fernsehbericht aus dem Haus ging. Ich sehe noch vor mir, wie der Frühnebel über den Wiesen stand und den Tieren auf den Weiden die Beine wegretuschierte, sodass sie zu schweben schienen. Wie die Tautropfen an den jungen Grashalmen in der Sonne glitzerten, der Gesang der Vögel den Wald in einen riesigen Konzertsaal verwandelte, und wie die Stimmung voller Frieden schien.
Ich sah es und dachte gleichzeitig darüber nach, wie verlogen meine Wahrnehmung mir eine heile Welt vorgaukelte. Ließ die Hühner aus dem Stall und überlegte, ob das nicht zu gefährlich sei, ob man anschließend ihre Eier noch essen könne. Ich betrachtete die wiederkäuenden Schafe vor dem Sommerstall, die Gänse im Gras und machte mir Gedanken darüber, welcher Gefahr sie alle ausgesetzt waren. Jetzt und für viele Generationen danach.
Ich öffnete das Lattentor zwischen der Buchenhecke, ging in den Gemüsegarten und wusste, dass ich keine Blätter für den Tee, kein Schnittlauch für das Rührei zum Frühstück pflücken durfte.
Unfassbar für mich.
Wie in Trance lief ich an den Beeten entlang. Bückte mich nicht wie sonst, um zu berühren, zu fühlen, mich daran zu freuen, dass die frischen grünen Spitzen sich ein paar Millimeter weiter aus dem Boden geschoben hatten.
Ein unwirkliches Szenario, gespenstisch - wie in einem bösen Traum.
Alles wirkte äußerlich unverändert, nichts war anders als gestern, und doch schwebte über allem die unsichtbare Ungeheuerlichkeit, dass sich über Nacht jede Pflanze in eine giftstrotzende, gefährliche Zeitbombe verwandelt haben könnte.
Möglich war zu diesem Zeitpunkt alles, und neue Nachrichten lösten die Bedrohlichkeit der ersten nicht auf, fügten ihr eher Unfassbares hinzu, sodass mir im Augenblick alles sinnlos erschien.
Da zogen wir uns aufs Land zurück, weit weg von Kokereien, Zinkhütten und Cadmium-Möhren, flohen vor den Dreckschleudern des Ruhrpotts in ein relativ unbelastetes, sauberes Gebiet, steckten unsere Energie in dieses Land und in seine möglichst natürliche Bearbeitung, und dann knallte es irgendwo in der Welt, viele hundert Kilometer von uns entfernt, und Sprecher im Fernsehen gaben uns den dringenden Rat, in diesem Jahr besser die Finger vom Schnittlauch und von den Beeren zu lassen!
Wie lächerlich! Nur in diesem Jahr?
Aber klar doch. Die Menschen mit ihrem Hang, alles Negative und Besorgniserregende möglichst schnell zu vergessen, würden die nachfolgende Vegetation als völlig normal ansehen wollen. Nur weitermachen wie bisher, sich nicht von Unbequemlichkeiten und Umdenken aus den vermeintlichen Sicherheiten und Gewohnheiten reißen lassen.
Unbegreiflich - das alles, und doch erwartet. Nun war es geschehen, tatsächlich geschehen.

Mit einem Gefühl zwischen Angst, Trauer und Wut fragte ich mich, wie Menschen nur den Mut zu einer Technologie aufbrachten, die mit ihrem unüberschaubaren, das Risiko völliger Vernichtung einschließenden Potential - über ungeheure Zeiträume hinweg - das Leben vieler Generationen der eigenen und anderer Arten auf unserem gesamten Planeten gefährdete. Dreißigtausend Jahre Halbwertzeit für Caesium, hatten sie gesagt. Dreißigtausend!
Jesus von Nazareth war gerade mal zweitausend Jahre lang tot. Eine irrsinnig lange Zeit für uns Menschen, doch wie lächerlich wenig im Vergleich zu der Zeit, in der dieser radioaktive Stoff gerade mal die Hälfte von seiner Gefährlichkeit verloren haben würde.

Leider waren diese Dinge - wie in diesem Moment befürchtet - ein paar Monate später durch die wundersame Kraft der Verdrängung auch für uns kein großes Thema mehr. Robin und ich hatten begonnen, uns intensiver für alle Fragen der Esoterik zu interessieren. Wir tauchten immer tiefer ein in die Suche nach einem anderen, einem spirituellen Sinn unseres Lebens, suchten im Angesicht unserer Unfähigkeit, das Außen zu beeinflussen, nach den verborgenen Kräften und Energien in uns selbst.
Und Majou begleitete diesen Weg.