Die Fahrt kam mir enorm lang vor. So weit weg vom Dorf hatte ich das Ganze nicht erwartet. Aber die Gegend war atemberaubend schön und so einsam, wie ich es mir erträumt hatte. Mag sein, dass solche Einsamkeit nicht etwas für jedermann ist, doch ich war begeistert. Mein Herz machte kleine Sprünge, als wir das Wiechholz durchquert hatten, der Wald nach einer sanften Rechtskurve den Blick auf weitere Wiesen und das einige hundert Meter entfernte Hofgelände freigab.
Da lag es, Mylopa, umgeben von ein paar alten, mächtigen Eichen, Buchen, Birken, Haselnussgebüsch, Holunder und ausladenden Kastanien. Außer der Scheune, deren Schleppdach sich bis etwa auf die Höhe von zwei Metern an den Boden zog, war von den anderen Gebäuden aus dieser Entfernung noch nicht viel zu sehen.
Eigentlich eher hässlich, dieser erste Anblick. Doch das machte nichts, denn die Lage erschien mir dermaßen traumhaft, dass fast gleichgültig war, wie die übrigen Bauten hinter diesem grauen Koloss aussahen. Gebäude konnte man verändern mit der Zeit. Die Lage musste man so nehmen wie sie war.

Unsere Wagen rollten in die Hofeinfahrt, und wir kamen nebeneinander auf einer Betonplatte zum Stehen. Robin und ich blieben einen Moment sitzen und sahen an der mit rotem Backstein verklinkerten Front entlang, verrenkten uns die Hälse, um uns nach dieser beinahe Furcht einflößenden, grau verputzten Scheune mit ihren gewaltigen grünen Schiebetüren umzuschauen.
Bauer Horst hatte seinen Wagen bereits verlassen, kam auf uns zu und rieb sich die Hände beim Gehen. Die Hunde gebärdeten sich wie wild, kläfften ihn an und sprangen gegen die Wagenscheiben. Wir beeilten uns mit dem Aussteigen, klappten die Sitze vor und ließen die kleinen Kläffer hinaus ins Freie. Blitzartig waren beide auf dem Grünstreifen, der die Betonplatte vom Wirtschaftsweg trennte, und sie gingen wie auf Kommando gleichzeitig in die Hocke. Das schien knapp gewesen zu sein!  
"Von da ab ist alles neu", sagte Bauer Horst und deutete auf die niedrige, noch unverfugte Mauer vor uns. Sie führte vom Wirtschaftsweg bis an die Hauswand heran. Dort, wo sie das Mauerwerk berührte, war quasi die Trennlinie zwischen der neuen Verklinkerung und dem alten Bau, dem Haupthaus. Dessen Steine erschienen viel unterschiedlicher rot-scheckig gefärbt und im Gegensatz zum neuen Teil auch sehr viel rauer strukturiert. Außerdem wirkten die Fugen dazwischen gelblicher und ein wenig bröselig, und es gab kleine Löcher darin, die danach aussahen, als hausten die Mauerbienen darin. Die ehemaligen Stallfenster im neueren Teil des Gebäudes waren durch quadratische, moderne, doppelverglaste Fenster ersetzt und hatten Rahmen aus dunklem Merantiholz. Bei einem klebte noch der Zettel mit der Firmenbezeichnung am Glas.
Wir gingen um die niedrige Mauer auf das Haupthaus zu, vor uns die entsetzlichste Haustür, die ich je gesehen hatte. Sie hatte einen noch unverfugten Vorbau, der wohl nachträglich angesetzt war und wie ein unfertiger Klotz wirkte. Das Dach hörte über ihm einfach auf, so dass der Vorbau oben wie abgeschnitten wirkte. Ehe ich jedoch genügend Zeit hatte, diese Eindrücke auf mich wirken zu lassen, wurde die Aluminium-Haustür geöffnet, und zwei kleine Kinder streckten vorsichtig ihre Köpfe heraus.
"Da sind sie, Mami", rief das Ältere der beiden ins Innere zurück. Gleich darauf erschienen zuerst eine junge Frau, die uns mürrisch entgegen sah und danach ein Mann im grünen Arbeitskittel. Erst wischte er sich die Hände am Kittel ab, dann begrüßte er uns - etwas verlegen, während seine Frau, ein Kind links, ein Kind rechts, beide Arme um deren Schultern schlang.
Ich nickte ihr zu und versuchte dabei ein Lächeln. Aber auch mir war im Augenblick nicht ganz wohl bei dem Gedanken, dass diese Leute in naher Zukunft auf der Straße stehen würden. Ganz gleich, wer dieses Haus nun kaufen würde. Und spontan überlegte ich, wie lange wir ihnen wohl Zeit lassen würden, falls wir das wären.
In der eher bescheidenen, spartanisch möblierten Diele saß man gerade bei Kaffee und Schokoladenkuchen. Der Raum hatte so gar nichts von den Eingangsbereichen, wie ich sie mir bei alten Bauernhäusern vorstellte. Ein ganz normales Zimmer. Billige Pappmaschee-Türen mit Limba-Furnier. In jeder Wand eine. Ich nahm an, dass sie gegen die ehemaligen, massiven Füllungstüren ausgetauscht worden waren, weil man der Zeit folgen und den alten Plunder loswerden wollte. Bauer Horst nickte selbstzufrieden und bestätigte damit meinen Verdacht.
Die Tür an der Stirnwand gegenüber der Alu-Eingangstür mit Riffelglasfüllung führte, wie man uns sagte, in die ehemalige Küche, die gleichzeitig der Durchgang zum Schweinestall war. Wir schauten kurz hinein und entdeckten drei weitere Türen. Eine rechts um die Ecke und zwei links direkt nebeneinander. Durch eine der beiden Zwillingstüren kam man über eine Steintreppe in ein dunkles Kriechkellerloch, hinter der anderen verbarg sich eine kurze, ziemlich vergammelte, teppichbelegte Holztreppe, die hinauf in die Up-Kammer direkt über dem niedrigen Kellerraum führte.
Durch die gegenüberliegende Tür ging es nun in einen Wirtschaftsraum, in dem rechts um die Ecke die großen Behälter der Haus-Wasseranlage standen und links, zur hinteren Eingangstür hin, eine Kühltruhe und eine Waschmaschine. Von dort führte eine massive Holztür hinter das Haus in einen zugigen Raum, den überdachten Durchgang zum alten Stall. Aus Bauer Horsts Erzählungen wussten wir bereits, dass diesem alten Fachwerkgebäude um ein Haar das Schicksal erspart worden war, ebenfalls abgerissen zu werden.
Wir kehrten wieder um und schauten uns einen anderen Trakt des Hauses an. Nichts war wirklich schön. Nichts hätte man so lassen können wie es war. Doch mein inneres Auge sah anders. Baute bereits um ... .
"Eigentlich hatte ich vor, auf Dauer den ganzen alten Kram hier dazwischen wegzuhauen", sagte Bauer Horst, "und Zimmer für Zimmer neu hochzuziehen. Mit diesem hier haben wir angefangen, und wir wollten so lange weitermachen, bis wir den Anschluss an den neuen Kuhstall gehabt hätten."
Um Gottes Willen! Wie gut, dass ihr vorher ausgezogen seid! dachte ich, schaute aus dem Fenster der besten Stube und bewunderte die ausladenden Rhododendrenbüsche vor dem Haus. Noch hielten sie ihre Blütenknospen fest verschlossen, aber was für eine Pracht mochten sie sein, wenn wir erst Mitte Mai hätten!
Nach einer Weile landeten wir wieder in der Diele bei den Kindern mit den vom Schokoladenkuchen verschmierten Gesichtern. Wir folgten dem Bauern durch die letzte Tür, die von der Diele aus in den neueren Bereich führte. Diesmal ging es in Richtung Kuhstall.
"Hier wollten wir das Frühstückszimmer für unsere Gäste machen", erzählte die junge Frau, und sie sah dabei gar nicht glücklich aus.
Der erste wirklich schöne Raum mit einer Abtrennung aus alten Eichenbalken, etwa zwei Meter dahinter eine frisch gezogene Wand und ein offener Mauerdurchlass zum Stall. Wir befanden uns auf einer inzwischen stillgelegten Baustelle. Von einem langen Mittelflur gingen rechts drei, links zwei kleine Zimmerchen, Duschräume und Toiletten ab.
"Ja, und hier sollten die Leute schlafen und Urlaub machen", sagte der Mann im grünen Kittel, und meine Fantasie richtete sich im Frühstückszimmer schon die Küche ein.
Wir schauten überall kurz hinein, traten schließlich am Ende des langen Flures durch die neue Eingangstür aus Holz und befanden uns wieder draußen vor der Scheune. Ich fühlte mich noch immer erschlagen von diesem Ding! Es schüttelte mich ein wenig, und fast taten mir die beiden Island-Pferde Leid, die hinten im Schleppdach in provisorisch zusammengezimmerten Boxen standen. Als wir zu ihnen herein kamen, hörten sie für einen Moment damit auf, Heu aus den Raufen an der Wand zu zupfen und schauten sich mit großen, mir traurig erscheinenden Augen kauend nach uns um.

Doch dann geschah es! Wir liefen am Schweinestall und einem daran anschließenden, vor Altersschwäche fast zusammenbrechenden Holzschuppen entlang nach hinten auf das Gelände, und ich weiß noch heute, wie mir beim Blick unter den Kronen der Kastanien hinweg, über die Wiesen bis hinüber zum Wald fast das Herz stehen blieb. Mich durchströmte ein solches Glücksgefühl, wie ich es nie zuvor und auch selten danach wieder erlebte, und ich bin sicher, dass ich es nie wieder in der gleichen, gewaltigen Intensität erleben werde. Das war ganz einfach Liebe auf den ersten Blick!
Seit diesem Augenblick weiß ich, dass es so etwas gibt. Das Gefühl, endlich irgendwo angekommen und zu Hause zu sein. Etwas, das sich wie eine warme Decke um die Schulter zu legen scheint und eine Geborgenheit gibt, nach der man zeitlebens auf der Suche war. Wie eine warme Woge überrollte mich dieses Gefühl, riss mich in einen wilden inneren Sturm, und ich ahnte, ja, ich wusste: Robin ging es ebenso! Er schaute mich an und lächelte, und auf dem Rückweg, einmal ganz herum um den Schweinestall bis an die südliche Grenze des Geländes, schlang er mir den Arm um die Schulter und zog mich mit sanfter Gewalt an sich heran. Wir hatten beide genug Vorstellungskraft, um im Geiste aus dem unbearbeiteten, von Unkraut überwucherten Land wundervolle Staudenbeete, neue Räume schaffende Hecken und Obstwiesen entstehen zu lassen. Mit vielen immer wieder anderen Gelegenheiten zum Sitzen und der Möglichkeit, aus unterschiedlichen Perspektiven unsere zukünftige Idylle betrachten zu können. Mit Wasserflächen auch, unter der Sonne glitzernd, umgeben von üppiger heimischer Vegetation und vielen der Findlinge, die wir auf dem Weg hierher überall an den Ackerrändern herumliegen gesehen hatten ...

Wir hatten genug gesehen, verabschiedeten uns von Auerbachs, versprachen der Bauersfamilie, dass wir uns bei ihnen melden würden, so bald wir uns endgültig entschieden hätten, luden die Hunde wieder ins Auto und krochen zurück Richtung Dorf. Mussten uns dabei immer wieder umsehen und konnten uns kaum losreißen von diesem Anblick.
Nach ein paar hundert Metern hielten wir an, wendeten in einer Weideneinfahrt und fuhren zurück. Diesmal wollten wir uns alles noch einmal allein und aus der Ferne ansehen. Unsere Wolldecke auf der Wiese ausbreiten, den Picknickkorb aus dem Wagen holen, uns mit Frikadellen, Eiern, Kartoffelsalat, Tomaten, ein paar Broten und Kaffee ins Grüne hocken, essen, schauen und nachdenken.
Die Hunde tobten ausgelassen über den Acker nebenan, und Robin lag auf dem Bauch, hatte das Kinn in die Hände gestützt und sah hinüber zum Hof. "Was meinst du?" fragte er nach einer Weile.
"Ich denke, wir sollten es kaufen", sagte ich und nahm einen Schluck Kaffee. "Wir könnten von unterwegs gleich anrufen ..."
Zuerst wieder diese Steilfalte auf seiner Stirn. "Wir werden uns bis unter die Achseln verschulden ..."
Dann jedoch lächelte er und griff über dem Korb nach meiner Hand. "Meinst du wirklich? Hast du diese entsetzliche Haustür bemerkt? Diesen angeklatschten Flachdach-Anbau?"
"Ja, furchtbar!"
"Aber die Gegend hier ist einfach toll. Nirgends hatte ich bisher ein so gutes Gefühl. Du etwa?"
Ich schüttelte den Kopf. "Und zu teuer ist es eigentlich auch nicht."
"Im Geiste sehe ich schon den Garten vor mir", sagte er, "und aus den Gebäuden könnte man etwas machen ..."
"Glaubst du, dass das Wasser wirklich in Ordnung ist?" Ein wenig von meiner Beunruhigung war offenbar noch da. Obwohl es wirklich tragisch wäre. Jetzt, da mein Herz hier schon Wurzeln geschlagen hatte.
"Denkst du, dass sie lügen? Den Eindruck hatte ich eigentlich nicht. Außerdem, dann wären ja auch die anderen krank geworden", sagte Robin und wischte damit dieses eigenartige Gefühl in mir schnell wieder fort.
"Stimmt. Am Wasser wird es wohl nicht gelegen haben."

Kein Gedanke mehr daran, uns auch das andere Haus noch anzuschauen. Das bei Osnabrück, das eigentlich für heute Nachmittag noch mit auf dem Plan stand ...
Es begann bereits zu dämmern, und wir packten unsere Sachen wieder zusammen. Fuhren noch einmal langsam am Hof vorbei, weiter geradeaus, nahmen einen anderen Weg zurück, als den, auf dem wir hergekommen waren. Ein Stück weiter südlich vom Dorf landeten wir wieder auf der Hauptstraße. Gleich an der nächsten Telefonzelle hielten wir an. "Das ging aber schnell!", wunderte sich Horst-Junior, der bei unserer Bauernfamilie offensichtlich für den Telefondienst zuständig war.
"Ich weiß", lachte ich, "wir wundern uns über uns selbst."
"Und nun?"
"Sag deinen Eltern, sie sollen uns Bescheid geben, wenn sie einen Termin beim Notar haben."
"Klar, mach ich ..."

Zurück bei Robin im Wagen musste ich tief durchatmen und seufzte: "Hätte nicht gedacht, dass die Entscheidung für ein Haus so aufregend sein kann." Irgendwie war mir bei aller Freude nach diesem Telefonat ein wenig unheimlich zumute. Ich hatte Tatsachen geschaffen!
Robin lächelte und strich mir über die Schulter. "Vielleicht muss das so sein, wenn man sein erstes eigenes Haus kauft."

Als unser Grüner den kleinen Hügel in Erkenschwick wieder hoch kroch, war ich mir plötzlich nicht mehr sicher, ob wir eine gute Entscheidung getroffen hatten. Auch dieses Häuschen in Erkenschwick leuchtete uns heimelig entgegen. Robert und Sonja hatten die Außenbeleuchtung eingeschaltet, und aus ihrem Küchenfenster floss warmes Licht über die Frühlingsblumen im Vorgarten. Weiß strahlte uns in der Dunkelheit das Fachwerk zwischen den schwarzen Balken entgegen. Das sah sehr romantisch aus. Auch hier war es schön geworden in den letzten Jahren, und es gab liebe Menschen, eine Menge Freunde in unserer Nähe ...